In Kraatz
 
Gotthold Gloger lernte ich 1985 kennen. Elizabeth Shaw, die irische Zeichnerin, die in Ost-Berlin lebte, hatte mich schon auf ihn aufmerksam gemacht. „Da gibt es jemand, den du unbedingt kennen kernen mußt“, hatte sie gesagt, „er ist sehr originell. Du wirst ihn und seine Frau mögen, das weiß ich, und den Ort, wo sie wohnen.“ Wie das Leben so spielt, brachte uns der Zufall bald danach zusammen. Friedo Solter feierte seinen 55. Geburtstag. Unter den Gästen fiel mir ein stattlicher älterer Mann auf, mit einem kleinen Ohrring im linken Ohr und einem Zwinkern in den Augen. Wir kamen ins Gespräch und mochten uns sofort. Nicht lange danach besuchten mein damaliger Freund und ich Gotthold und Helga in Kraatz. Elizabeth erklärte mir den Weg:“ Du fährst die 96er Straße immer geradeaus nach Norden. Hinter Löwenberg kommt ein Schild Good Germans` Dorf, da mußt du rechts abbiegen.“
Wir bogen nach Gutengermendorf ab, hinter diesem langgestreckten Ort kam Häsen, dann fuhren wir ein kleines durch eine Brandenburger Allee mit funkelnder Sonne in den Bäumen. „Nach Häsen kommt ein Feldweg, da geht es zu Glogers Haus“, hatte mir Elizabeth gesagt. An einer Abzweigung kam uns ein Traktor entgegen. „Geht es hier zu Glogers?“ fragte ich. „Ja, die warten schon auf Sie“, antwortete der Traktorfahrer. Links und rechts des sandigen Weges Büsche, dann ein paar Häuser, eine Kurve und plötzlich lichtete sich alles. Ein schönes altes Bauernhaus mit einem Stück Rasen davor. Wir parkten das Auto hinter dem Haus, ein paar Schafe weideten unter den Bäumen, Hühner liefen gackernd herum. Gotthold saß auf der Veranda in der Sonne und rupfte eine Flugente, die er für uns braten wollte. So sah ich Kraatz zum ersten Mal. Noch ahnte ich nicht, wie oft ich diesen Weg fahren (und wie oft ich mich verfahren) würde und welche wunderbare Welt sich mir da aufgetan hatte.
Gotthold und Helga führten ein offenes Haus. Am Wochenende schneiten Leute einfach herein. Es konnten an einem Nachmittag zwei oder drei oder auch zehn oder fünfzehn Menschen sein, die in Kraatz auftauchten, zum Kaffeetrinken und um Helgas wunderbaren Kuchen zu essen. Im Lauf der Zeit lernte ich in Kraatz eine bunte Mischung von Menschen kennen. Auffallend war Gottholds und Helgas Toleranz. Niemand wurde bei ihnen abgewiesen. Der Handwerker aus Häsen oder der Nachbar von nebenan waren genauso willkommen wie die Schauspieler, Filmemacherinnen und Künstler aus Berlin. Nach und nach gesellten sich immer mehr Menschen aus dem Westen dazu, und so wurde dieser winzige, versteckte Ort in der Mark lange vor der Vereinigung zu einem Treffpunkt Ost – West. Die Gespräche drehten sich um Literatur, Filme, Ausstellungen, aber es wurden auch viel Dönekens erzählt, Geschichten von früher oder auch Klatsch. Und dann die Witze. Die meisten Trabi –Witze, die meisten DDR-Witze überhaupt, habe ich in Kraatz zum ersten Mal gehört.
Für Gotthold waren diese Treffen, glaube ich, Lebenselixier. Er machte Menschen um sich haben. Und er machte die Gespräche. Er war sehr belesen, und oft hatte er mitten im Gespräch eine Anekdote oder ein passendes Zitat parat, oft ein klassisches, manchmal aber auch ein derbes Lied, das er mit großer Freude vortrug. Er mochte Geschichten und erzählte gern. Und er frotzelte gern. Nie werde ich vergessen, wie Gotthold und Volker Koepp am Tag nach einer der riesigen Feten, die Helga jedes Jahr zu Gottholds Geburtstag veranstaltete, in der Küche saßen und sich gegenseitig mit Frotzeleien hochschaukelten, bis sie nicht mehr konnten und sich alles in Lachen auflöste.
Aber Gotthold mochte auch die Stille. Als ich Gotthold und Helga kennenlernte, lebten sie schon über fünfzehn Jahre in Kraatz. Es war eine bewußte Entscheidung gewesen, aus Berlin weg und in ihr damaliges Ferienhaus aufs Land zu ziehen. Beide liebten das ländliche Leben, wollten im Grünen sein und Tiere um sich haben, Schafe und Hühner damals, immer auch Katzen und einen Hund. Gotthold pütscherte gern auf dem Hof herum. Er war es, der die Hühner schlachtete und zubereitete. Er kochte gern und gut. Beide liebten das Haus und hatten es mit schönen alten Möbeln eingerichtet. Nach einem bewegten Vorleben hatte Gotthold hier Ruhe und Stabilität gefunden, die er für seine Arbeit brauchte. „Malen und schreiben ist wie ein- und ausatmen“, hatte er einmal gesagt. Seine erste Liebe ist jedoch die Malerei gewesen, und sie lieb es wohl zeitlebens. Die Themen fand er in seiner nächsten Umgebung. Die märkische Landschaft mit dem tiefen, wolkenbehangenen Himmel, die Schafe und Hühner im Garten, ein Fisch, der gerade aus Zeitungspapier ausgewickelt worden war, Blumen im Garten und im Haus. Die Bilder sind unprätentiös, sie geben keine aufgeblasene „Bedeutung“ vor, wie es Gotthold generell nicht lag, anzugeben oder sich aufzuplustern. Aber die Bilder sind unangestrengt poetisch und zeugen von der tiefen Liebe, die Gotthold zu seiner Umgebung hatte.
Mit derselben Aufmerksamkeit und mit viel Neugierde malte er aber auch auf Reisen. Vor der „Wende“ etwa in Ungarn, aber auch in Algerien und Portugal oder in der Schweiz, wo er mit Helga Freunde besucht. Später dann auch bei Aufenthalten in Italien und Frankreich.
Er malte schnell und mit großer Leichtigkeit. Das Papier wurde erst etwas befeuchtet und mit hellen Farbflächen, die and den Rändern verliefen, das Bild angelegt. Darüber malte er an manchen Stellen eine zweite Schicht etwas dunklerer Flächen. In die Flächen hinein zeichnete er mit einem Pinsel, oder er ritzte mit dem Stiel des Pinsels Strukturen in die nasse Farbe. Er arbeitete sehr spontan. Seine Sache war es nicht, ein Bild mehrfach zu überarbeiten. Ein Bild gelang entweder, oder es gelang ihm nicht. Wenn es aber gelang, schaffte er es mit einigen und lebendigem Farbempfinden, ein Stimmung oder einen Augenblickseindruck ganz einzufangen.
Vielleicht waren die Reisen, die er nach der Vereinigung unternahm, auch eine Flucht aus einer Welt, die ihm zunehmend fremd wurde. Er war nicht traurig, daß die Parteibonzen verschwanden, aber er empfand die Art der Annektierung der DDR als tiefe Kränkung. Doch gemalt hat Gotthold noch jeden Tag, so lang es ging. Und uns die schönen Bilder hinterlassen, die von seiner Welt zeugen.

Sarah Haffner